
Aufrüstung ohne Strategie: Europa steuert sehenden Auges in die nächste Krise
Die Worte von Bundeskanzler Friedrich Merz hallten durch den Saal wie ein Donnerschlag, der Jahrzehnte europäischer Sicherheitspolitik in Frage stellte. „Die Jahrzehnte der Pax Americana sind für uns in Europa weitgehend vorbei", verkündete er Mitte Dezember vor seiner Partei. Eine Aussage, die in der Nachkriegsgeschichte ihresgleichen sucht – und die fundamentale Fragen aufwirft, auf die Berlin offenbar keine Antworten hat.
Das Ende einer Ära – und der Beginn des Chaos
Was Merz da aussprach, war nichts Geringeres als das Eingeständnis eines historischen Scheiterns. Die von den USA garantierte Sicherheitsordnung, auf die sich Europa seit dem Zweiten Weltkrieg verlassen hat, existiert in ihrer bisherigen Form nicht mehr. Die neue amerikanische Nationale Sicherheitsstrategie macht dies unmissverständlich deutlich: Russland wird nicht länger als Bedrohung identifiziert, sondern als Faktor in Washingtons Bemühungen um Frieden in der Ukraine.
Besonders brisant ist der Satz, dass „die Wahrnehmung und Realität einer ständigen NATO-Erweiterung aufhören muss". Mit einem einzigen Federstrich wurden damit fast drei Jahrzehnte westlicher Narrative, die jeden Zusammenhang zwischen der NATO-Osterweiterung und dem Ukraine-Krieg bestritten hatten, von der Führungsmacht des Bündnisses selbst verworfen.
800 Milliarden Euro für eine Strategie, die niemand kennt
Die Reaktion der europäischen Eliten auf diese Zeitenwende ist bezeichnend: Statt diplomatischer Initiativen wird aufgerüstet. 800 Milliarden Euro sollen in die europäische Verteidigung fließen – ein gigantisches Programm, das angeblich das Vakuum füllen soll, das ein sich zurückziehendes Amerika hinterlässt. Doch wer genau hinschaut, erkennt das fundamentale Problem: Es gibt keine Strategie.
NATO-Generalsekretär Mark Rutte hielt apokalyptische Reden in Berlin. Frankreichs Generalstabschef Fabien Mandon und der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Admiral Giuseppe Cavo Dragone, überboten sich gegenseitig mit martialischen Warnungen. Letzterer ging sogar so weit, präventive Hybridangriffe gegen Russland zu befürworten. Man fragt sich unwillkürlich: Haben diese Herren den Verstand verloren?
Die Wehrpflicht-Debatte als Symptom der Hilflosigkeit
Merz hat bereits angedeutet, was diese Aufrüstung in der Praxis bedeuten könnte: Sollte Deutschland seine Streitkräfte nicht schnell genug ausbauen können, werde die Wiedereinführung der Wehrpflicht „unvermeidlich". Ähnliche Töne sind aus Großbritannien, Frankreich, Italien, Polen und den nordischen sowie baltischen Staaten zu vernehmen.
Doch die Prämisse dieser Forderungen ist höchst fragwürdig. Die Behauptung, Deutschland oder Europa stünden vor einer unmittelbaren militärischen Bedrohung durch Russland, ist umstritten. Moskau scheint weder über die Ressourcen noch über die Fähigkeiten zu verfügen, NATO-Länder anzugreifen. Nach fast vier Jahren Krieg ist es nicht einmal gelungen, die gesamte Ukraine zu besetzen.
Industrielle Aushöhlung statt militärischer Stärke
Die bittere Ironie liegt darin, dass Deutschland und weite Teile Europas gar nicht in der Lage sind, eine Massenaufrüstung durchzuführen. Die Freiwilligenstreitkräfte schrumpfen und überaltern, Rekrutierungsziele werden verfehlt, Ausbildungssysteme arbeiten schleppend. Deutschlands industrielle Basis wurde ausgehöhlt, während der Automobilsektor unter dem Druck chinesischer Konkurrenz ächzt.
Die kaum verhüllte Ambition, den industriellen Vorsprung durch eine Hinwendung zur Waffenproduktion zu erhalten, ist leicht zu proklamieren, aber weitaus schwieriger zu verwirklichen. Das Ergebnis ist eine surreale Situation, in der Militarisierung als Ersatz für Diplomatie präsentiert wird – als könnte die Wehrpflicht das politische Vakuum füllen, das durch den nahezu vollständigen Verzicht auf ernsthaftes diplomatisches Engagement entstanden ist.
Europas selbstverschuldete Schwäche
Wenn Merz und seine EU-Kollegen glauben, dass massive Aufrüstung einen Ausweg aus der Sackgasse bietet, die sie selbst geschaffen haben, täuschen sie sich gewaltig. Seit 2022 haben europäische Führungskräfte ihre eigene Energiesicherheit untergraben, an Wettbewerbsfähigkeit verloren, industrielle Kapazitäten ausgehöhlt und die Deindustrialisierung als Tugend gepriesen – alles im Namen eines Krieges, den sie wahrscheinlich nicht gewinnen werden.
„Liebe Freunde, hier sind wir nicht schwach, wir sind nicht klein."
Diese Worte des Kanzlers klingen angesichts der Realität wie blanker Hohn. Überall in Europa schließen Fabriken, Energiepreise schießen in die Höhe, Lieferketten wandern ab. Doch die EU-Entscheidungsträger verharren in einem Zustand kognitiver Dissonanz und funktionieren auf Autopilot. Es gibt keine Vision. Die Diplomatie ist verschwunden. Eine glaubwürdige neue Sicherheitsarchitektur für den Kontinent wird nicht einmal diskutiert.
Russophobie als Ersatz für Strategie
Stattdessen wird alles durch eine einzige Matrix gefiltert: Russophobie – ein Gefühl, das sich als Strategie tarnt. Und dann gibt es da noch die Mutter aller Paradoxien: Die EU behauptet, die Freiheit zu verteidigen, während sie offen über Zwangsgesetze diskutiert und diese verabschiedet, die die Meinungs- und Gedankenfreiheit im eigenen Land einschränken.
Kann ernsthaft behauptet werden, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Willen der Wähler bei den letzten Wahlen respektiert hat? Oder dass die Ereignisse rund um Rumäniens jüngsten Wahlprozess auch nur annähernd normal waren? Wie ist es möglich, dass EU-Institutionen zunehmend Einzelpersonen ohne ordentliches Rechtsverfahren sanktionieren können, nur weil sie abweichende Meinungen vertreten?
Finanzielle Selbstsabotage knapp verhindert
Nach dem politischen Wahnsinn, Russlands „strategische Niederlage" anzustreben, dem wirtschaftlichen Schaden durch Sanktionen und dem Verzicht auf russisches Gas hätte Europa beinahe noch finanzielle Selbstsabotage zur Liste hinzugefügt. Der Versuch, eingefrorene russische Vermögenswerte in europäischen Banken zu konfiszieren, um den Krieg in der Ukraine zu finanzieren, scheiterte letzte Woche am Europäischen Rat. Belgien, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Italien und sogar Frankreich erhoben Einwände.
Stattdessen entschied sich die EU, ihre ohnehin belasteten Steuerzahler mit einem neuen 90-Milliarden-Euro-Kredit an die Ukraine zu belasten. Wenn Historiker auf diese Periode zurückblicken, werden sie möglicherweise überrascht feststellen, dass es ein relativ unbekannter belgischer Premierminister war, Bart De Wever – von weiten Teilen der Mainstream-Presse verspottet –, der eine entscheidende Rolle bei der Rettung von Europas finanzieller Glaubwürdigkeit spielte.
Ein Hoffnungsschimmer am Horizont?
Mit Blick auf 2026 gibt es wenig Anzeichen dafür, dass Europas Führungskräfte bereit sind, ihren verfehlten Kurs aufzugeben. Dennoch gibt es einen schwachen Hoffnungsschimmer: Macron hat eine erneute Bereitschaft signalisiert, den Dialog mit Russland aufzunehmen. Ein ermutigender, wenn auch unzureichender Schritt.
Jede echte Wende würde erfordern, dass zwei fundamentale Prinzipien beachtet werden: Erstens die Unteilbarkeit der Sicherheit – die Idee, dass die Sicherheit eines Staates nicht auf Kosten anderer in derselben Region verfolgt werden kann. Osteuropäische Staaten, einschließlich der Ukraine, können nicht plausibel darauf bestehen, dass ihre Sicherheit ausschließlich von der NATO-Mitgliedschaft abhängt, wenn Russland dieses Ergebnis als existenzielle Bedrohung wahrnimmt.
Zweitens die Anerkennung des Sicherheitsdilemmas: Wenn ein Staat seine militärischen Fähigkeiten ausbaut, können andere dies als bedrohlich wahrnehmen, unabhängig von der Absicht. Warum sollte Russland das 800-Milliarden-Euro-Aufrüstungsprogramm der EU als rein defensiv betrachten, wenn EU-Mitgliedstaaten bereits mehr als viermal so viel wie Russland für militärische Beschaffung ausgeben?
Ohne die Integration dieser Prinzipien in das europäische strategische Denken – insbesondere in die Verhandlungen über die Ukraine – droht 2026 ein weiteres düsteres Jahr für den Frieden auf dem Kontinent zu werden. Die Frage ist nur: Wann werden Europas Eliten endlich aufwachen?

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