
Istanbul-Pogrom 1955: Wenn aus Nachbarn Plünderer werden – und die Türkei bis heute schweigt
Es sind Bilder, die sich tief in die Seele einbrennen: Brennende Kirchen, geplünderte Geschäfte, weinende Großmütter am Fenster. Was Elizavet Kovis als kleines Kind in Istanbul erlebte, prägt sie bis heute. Der staatlich orchestrierte Mob, der am 6. September 1955 durch die Straßen zog, hinterließ nicht nur zerstörte Häuser und mindestens 15 Tote – er zerstörte das jahrhundertealte Vertrauen zwischen den Volksgruppen am Bosporus.
Die Nacht, in der Istanbul brannte
Während draußen der Pöbel wütete, saß die kleine Elizavet in ihrer Wohnung im vierten Stock. Die türkischen Nachbarn hatten sich zu ihrer Familie geflüchtet, ihre Mutter kochte pausenlos Kaffee. Schlafen durfte das Kind nicht – zu gefährlich war die Lage. Durch das Fenster sah sie, wie eine Kirche in Flammen aufging. Ihre Großmutter weinte.
Was sich in jener Septembernacht abspielte, war kein spontaner Volksaufstand. Es war ein minutiös geplanter Angriff auf die griechische, armenische und jüdische Bevölkerung Istanbuls. Bewaffnet mit Äxten und Eisenstangen zerstörten die Angreifer über 4.000 Geschäfte und mehr als 1.000 Häuser. Die Polizei schaute tatenlos zu – oder half sogar mit.
Der perfide Plan hinter dem Pogrom
Die Wissenschaftlerin Dilek Güven hat die wahren Hintergründe erforscht: Die junge türkische Republik wollte sich ihrer Minderheiten entledigen. Aus dem multiethnischen Erbe des Osmanischen Reichs sollte ein homogener Nationalstaat werden – türkisch und muslimisch. Die wirtschaftlich erfolgreichen Griechen störten dabei gewaltig.
"Die wirtschaftliche Kraft wurde quasi immer noch von den Griechen in den Händen gehalten"
Der Staat hatte die Randalierer sogar aus anderen Landesteilen nach Istanbul karren lassen. Ein angeblicher Bombenanschlag auf Atatürks Geburtshaus diente als willkommener Vorwand. Die Wahrheit: Es war eine False-Flag-Operation, um die aufgehetzte Menge zu mobilisieren.
Das große Schweigen der Türkei
70 Jahre später ist von Aufarbeitung keine Spur. Präsident Erdoğan bezeichnete die Ereignisse einmal vorsichtig als "Fehler" – mehr nicht. Keine Entschuldigung, keine Wiedergutmachung, keine historische Aufarbeitung. Stattdessen herrscht kollektives Schweigen.
Aret Demirci, selbst Istanbuler Armenier, bringt es auf den Punkt: Die meisten Türken auf der Straße könnten mit dem Jahr 1955 nichts anfangen. Sein Großvater, dessen Geschäft damals geplündert wurde, trug eine tiefe Enttäuschung in sich: "Irgendwann saß die Erkenntnis sehr tief: Wir sind in diesem Land nicht gewollt."
Von 100.000 auf 2.000 – eine Vertreibung mit System
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Vor dem Pogrom lebten etwa 100.000 Griechen in Istanbul. Heute sind es höchstens noch 2.000. Der Rest floh – nach den Ausschreitungen 1955 und einer weiteren Auswanderungswelle 1964. Was blieb, war eine Stadt, die ihre kulturelle Vielfalt verlor.
Elizavet Kovis organisiert heute von Athen aus Gedenkveranstaltungen. Wenn sie ihre türkischen Freunde in Istanbul besucht – aufgeklärte Menschen, wie sie betont –, fragen diese manchmal naiv: "Warum seid ihr damals eigentlich gegangen?" Diese Unwissenheit schmerzt fast mehr als der Pogrom selbst.
Der verzweifelte Kampf um Rückkehr
Niko Uzunoglu, heute 74, kämpft für ein Rückkehrrecht der jungen Generation. Die rhomäische Gemeinde in Istanbul zählt weniger als 800 Menschen – ein Häuflein Überlebender einer einst blühenden Kultur. Gespräche mit dem türkischen Staat über Einbürgerungen verlaufen zäh. Man will die Vertriebenen offenbar nicht zurück.
Dabei hängen die Istanbuler Griechen mit jeder Faser ihres Herzens an ihrer Heimatstadt. "Jedes Mal, wenn ich in Istanbul ankomme, atme ich erst mal tief durch", erzählt Elizavet. "Es ist unsere Stadt, unser Land – und doch haben wir unsere Heimat verloren."
Eine verpasste Chance für die Türkei
Was wäre Istanbul heute, hätte es den Pogrom nie gegeben? Eine weltoffene Metropole, in der verschiedene Kulturen friedlich zusammenleben? Stattdessen setzte die Türkei auf ethnische Säuberung und kulturelle Verarmung. Die Folgen dieser Politik spürt das Land bis heute – auch wenn es sie hartnäckig leugnet.
Die Geschichte des Istanbul-Pogroms ist mehr als eine historische Fußnote. Sie zeigt, wohin Nationalismus und staatlich geschürter Hass führen können. Und sie mahnt uns, wachsam zu bleiben – gerade in Zeiten, in denen überall in Europa wieder Minderheiten zu Sündenböcken gemacht werden. Die Türkei täte gut daran, sich endlich ihrer Vergangenheit zu stellen. Doch danach sieht es auch 70 Jahre später nicht aus.
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