Türkei in die BRICS? Balanceakt zwischen Ost und West
Auf der Weltkarte betrachtet, gehört die Türkei teils zu Europa und teils zu Asien. Nicht nur ihre geographische Lage verleiht ihr eine Brückenfunktion zwischen West und Ost, sondern auch ihre geopolitische. Sie ist seit 1952 NATO-Mitglied und stellte 1987 ihren Antrag auf einen EU-Beitritt. Nun orientiert sich die Türkei scheinbar mehr gen Osten. Vor kurzem hat sie einen Antrag auf eine Mitgliedschaft im Staatenbündnis der BRICS gestellt.
Zudem wird spekuliert, ob sich Ankara noch mehr von der EU abwendet und auch eine Mitgliedschaft bei der “Shanghai Cooperation Organization” (SCO; “Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit / SOZ”) anstrebt. In der aus zehn eurasischen Staaten bestehenden Allianz ist die Türkei seit 2012 als Dialogpartner vertreten – eine mögliche Mitgliedschaft steht im Raum.
Als wichtiger militärischer Partner der NATO werden die Bestrebungen der Türkei vom Westen mit Skepsis und Distanziertheit betrachtet. Hinzu kommt die wirtschaftliche Komponente, dass die Regierung in Kooperation mit Ländern der beiden Bündnisse daran arbeitet, die Dominanz des US-Dollars zu brechen. Ein Zeichen dafür ist auch, dass die Türkei – wie viele andere Länder in den BRICS bzw. der SCO ebenfalls – zu den größten Käufern von Gold weltweit zählt. Das Edelmetall dient auch dem Handel mit sanktionierten Ländern, um Embargos zu umgehen.
Tritt die Türkei BRICS – und der SCO… – bei?
Im Ursprung geht die Bezeichnung BRICS auf die vorangegangene namens „BRIC“ zurück, die von dem britischen Ökonomen Jim O’Neill erdacht wurde. Bei der US-Investmentbank Goldman Sachs veröffentlichte er 2001 einen Bericht, in dem Brasilien, Russland, Indien und China ein schnelles und starkes Wirtschaftswachstum für die kommenden Dekaden prognostiziert wurde. Aus den Anfangsbuchstaben der jeweiligen Länder ergab sich das Akronym „BRIC“. Seine Vorhersage, dass diese Staaten die globale wirtschaftliche Potenz der G7 herausfordern würde, hat sich soweit bewahrheitet.
Die BRICS (im Folgenden auch immer die BRICS Plus mit einschließend) zielen darauf ab, die Stimme der aufstrebenden Länder zu verstärken und ein Gegengewicht zur westlich geführten Weltordnung zu bilden. Sie strebt eine Neugestaltung der internationalen Wirtschafts- und Politikdynamik an.
Der türkische Außenminister Hakan Fidan erklärt, dass die Türkei keine neuen Allianzen suchen würde, wäre sie EU-Mitglied. Fidan betont, dass jedes Land wirtschaftliche, sicherheitspolitische und politische Bündnisse bilden müsse, insbesondere in einer Welt mit etwa 200 Nationalstaaten. Er verweist auf die langjährigen, aber erfolglosen EU-Beitrittsbemühungen der Türkei.
Vor diesem Hintergrund suche die Türkei nun nach anderen Optionen für Allianzen, so Fidan sinngemäß. Die Türkei plant, Ende Oktober am BRICS-Gipfel in der russischen Stadt Kasan teilzunehmen.
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Die SCO: Von „Shanghai Five“ zur eurasischen Macht
Die Wurzeln der SCO reichen zurück bis zur Gründung der „Shanghai Five“ im Jahr 1996. Diese Gruppe, bestehend aus China, Russland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan, wurde ursprünglich gegründet, um Grenzstreitigkeiten zu lösen und die regionale Sicherheit zu fördern.
Im Jahr 2001 wurde die Gruppe mit dem Beitritt Usbekistans offiziell zur Shanghai Cooperation Organization umbenannt. Die SCO hat sich seitdem zu einer bedeutenden eurasischen Sicherheits- und Wirtschaftsorganisation entwickelt. 2017 traten Indien und Pakistan bei, was die geopolitische Bedeutung der Organisation weiter erhöhte. 2023 traten der Iran und 2024 Belarus bei, womit sie jetzt zehn Vollmitglieder – sowie zwei mit Beobachterstatus und 14 Dialogpartner – zählt.
Schon 2013 sagte der damalige türkische Außenminister Davutoglu bei einem SCO-Treffen: „Türkei teilt das gleiche Schicksal wie die SCO-Länder und ist dankbar, Teil dieser Familie zu sein. Dies ist nur ein Anfang […] eines langen Weges, den wir Hand in Hand gehen werden.“ Präsident Erdogan hatte zuvor die SCO als „besser“ und „mächtiger“ als die EU bezeichnet, was als Provokation gegenüber der EU interpretiert wurde.
„Middle Corridor“ – Handelswege durch die Türkei
In ihrem Streben nach einer BRICS-Mitgliedschaft verfolgt die Türkei eine umfassende Strategie zur Stärkung ihrer Position als Brücke zwischen Ost und West. Zentral für diese Bemühungen sind zwei ambitionierte Infrastrukturprojekte: der „Mittlere Korridor“ und die „Iraq Development Road“. Diese Initiativen sollen alternative Handelsrouten zum Suezkanal und nördlichen Strecken etablieren und damit die geopolitische Bedeutung der Türkei unterstreichen.
Um diese Vorhaben voranzutreiben, hat die türkische Regierung Ende August Verkehrsminister aus Irak, Katar und den VAE zu Gesprächen über eine 20-Milliarden-Dollar-Handelsroute nach Istanbul eingeladen. Präsident Erdogan bemüht sich dabei um Finanzierung für ein umfassendes Infrastrukturnetz, einschließlich einer strategisch wichtigen Bosporus-Eisenbahnverbindung.
Obwohl diese Projekte mit dem US-unterstützten IMEC konkurrieren, betont die Türkei die Vorteile ihrer kürzeren Route und sieht Potenzial für die Koexistenz beider Vorhaben. Diese Infrastrukturinitiativen, kombiniert mit dem Streben nach einer BRICS-Mitgliedschaft und der Beteiligung an Chinas „Belt and Road Initiative“ (Neue Seidenstraße), zeigen deutlich die türkischen Ambitionen, ihre globalen Partnerschaften zu diversifizieren und ihre wirtschaftliche und strategische Bedeutung in der Region zu festigen.
Die Vorhaben der Türkei knüpfen an das chinesische Projekt der Neue Seidenstraße an und fügen sich in diese ein; ebenso sind sie an die Tradition der legendären antiken Handelsroute angelehnt. Auf ihr wurden in westlicher Richtung hauptsächlich Seide, in östlicher Richtung vor allem Wolle, Silber und Gold gehandelt.
Türkei: NATO des Westens oder „NATO des Ostens“?
Die Beziehungen zwischen der Türkei und der NATO waren in den letzten Jahren von zunehmenden Streitigkeiten überschattet. 2013 wollte die Türkei von China ein Flugabwehrsystem kaufen, was bei dem Nordatlantikpakt heftige Reaktionen auslöste. Die Türkei betonte die Kostengünstigkeit und den Technologietransfer; die NATO sah Sicherheits- und Spionagefahren darin. Die Kaufentscheidung wurde letztlich zurückgenommen.
2017 kaufte die Türkei S-400-Raketen von Russland. Dabei handelt es sich um ein als überlegen geltendes Luftabwehrsystem, das als eine sehr ernsthafte Herausforderung für potenzielle Gegner betrachtet wird. Als Konsequenz schlossen die USA 2019 die Türkei vom F-35-Programm aus – die F-35-Reihe bezeichnet Tarnkappen-Kampfjets des US-Rüstungskonzerns Lockheed Martin.
Trotz wiederholter Versuche der Türkei seit 2020, wieder in das Programm aufgenommen zu werden, bleiben die USA bei ihrer Haltung. Im Dezember 2020 verhängten die USA sogar Sanktionen gegen die türkische Rüstungsbehörde SSB. Diese Situation hat nicht nur militärische Konsequenzen für die Türkei, sondern belastet auch die wirtschaftlichen und strategischen Beziehungen innerhalb der NATO seit nunmehr fünf Jahren.
„Größer als fünf“: BRICS, die Türkei & die Vereinten Nationen
„Die Welt ist größer als fünf“, sagte Erdogan bereits auf der 71. General-Vollversammlung der UN im Jahr 2014 und wiederholt es seitdem bei vielen Gelegenheiten. Gemeint sind die fünf ständigen Mitglieder UN-Sicherheitsrats. Die 1945 gegründete Vereinte Nationen spiegelten die Nachkriegszeit des vergangenen Jahrhunderts wider, sei ineffizient und in ihrer Zusammensetzung veraltet, so der türkische Präsident. Die Kritik gilt insbesondere dem Vetorecht der einzelnen Länder, die Entscheidungen oft blockieren.
Deutschland und der Kaffee-Club
Neben den BRICS-Staaten fordern auch der G4-Verbund – bestehend aus Deutschland, Japan, Brasilien und Indien – tiefgreifende Reformen der UN. Aufstrebenden Volkswirtschaften solle eine gerechtere Stimme gegeben werden. Sie haben sich 2005 gebildet und streben einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat an. Damals blockierten die USA und China gemeinsam diesen Vorstoß der G4-Staaten. China zeigt sich mittlerweile viel offener für derartige Reformen.
Der 1995 gegründete Bewegung „United for Consensus“ (UfC; „Vereint für den Konsens“), auch als „Coffee-Club“ bekannt, hat sich schon in den 90ern als bedeutende Kraft in der Diskussion um die Reform des UN-Sicherheitsrats entwickelt. Italien, Mexiko, Ägypten sowie Pakistan – das aktuell von Russland für einen BRICS-Beitritt unterstützt wird – haben die Gruppe ins Leben gerufen. Kurz nach der Gründung schlossen sich Kanada, Spanien, Argentinien und die Türkei als Unterstützer an und verstärkten sie. Es dauerte nicht lange, bis sich der Kreis auf etwa 50 Länder aus Asien, Afrika und Lateinamerika erstreckte. Das engere Zusammenwachsen dieser Länder in der expandierenden BRICS-Staatengruppe könnte diesem Vorhaben weiteren Auftrieb verschaffen.
BRICS, die Türkei und Palästina
Im Oktober vergangenen Jahres wurde eine UN-Resolution bezüglich einer Waffenruhe im Gazastreifen blockiert. Erdogan kritisierte, dass die USA als einziges Mitglied gegen den Resolutionsentwurf stimmte und stellte die Gerechtigkeit des Vetorechts erneut infrage. Er betonte, dass der Sicherheitsrat sich seitdem zu einem Schutzmechanismus für Israel verwandelt habe, anstatt den Weltfrieden zu wahren. Der Präsident verwies darauf, dass trotz der Unterstützung von 121 Ländern für eine sofortige Waffenruhe keine Maßnahmen ergriffen wurden.
Die Türkei sieht in der aktuellen Eskalation in Gaza einen dringenden Handlungsbedarf, die UN-Strukturen zu reformieren, um eine gerechtere und effektivere internationale Ordnung zu gewährleisten. In seiner offensiven Art gegen Israel erntet Erdogan in der muslimischen Welt zunehmende Sympathien. Nach dem BRICS-Gipfel in Kasan werde Palästina einen Antrag auf eine BRICS-Mitgliedschaft stellen, berichtet die türkischen Nachrichtenagentur „Anadolu Agency“ (AA).
BRICS – Ein geschlossener Wirtschaftsraum
Die Kritik der BRICS und des Globalen Südens an der ungleichen Verteilung der Entscheidungsgewalt in den internationalen Institutionen betrifft ebenso die Weltbank sowie den Internationalen Währungsfonds (IWF). Hier wird ebenfalls den Organisationen vorgeworfen, überwiegend den Interessen der westlichen Industrieländer zu dienen, während Schwellen- und Entwicklungsländer unterrepräsentiert bleiben und wenig Einfluss auf Entscheidungen haben.
Ein zentraler Kritikpunkt betrifft die wirtschaftliche Repräsentation in den beiden Institutionen, deren Führungsstrukturen weiterhin die Nachkriegsvereinbarungen widerspiegeln. Trotz des wirtschaftlichen Aufstiegs von Ländern wie China und Indien bleibt ihr Einfluss begrenzt, was Bemühungen um eine gerechtere Stimmrechtverteilung behindert. Zudem kritisieren viele Länder des Globalen Südens die restriktiven finanziellen Bedingungen, die westlich dominierte Institutionen oft auferlegen und die das Wachstum in diesen Regionen hemmen würden.
Auch die Türkei teilt die Forderungen und spricht von einer gerechteren globalen Finanzordnung. BRICS treibt parallel dazu die Schaffung eigener Institutionen wie die „New Development Bank“ (NDB; „Neue Entwicklungsbank“) voran, zu der kürzlich Algerien beitrat. Ein weiteres wichtiges Ereignis war die Einführung eines neuen Intrabank-Zahlungssystems, das es Ländern wie Russland und Iran ermöglicht, Transaktionen in ihren eigenen Währungen durchzuführen und den US-Dollar zu umgehen.
BRICS: Gegen die Hegemonie des Dollars
Als 2006 der erste BRIC-Gipfel stattfand, war die Dominanz des US-Dollars auf dem Weltmarkt ein vorherrschendes Thema. Seitdem hat die Dynamik, um die Vermeidung der Nutzung des US-Dollars im internationalen Handels voranzutreiben, merklich zugenommen.
Mit der Verkündung, wie weit die BRICS-Staaten bei der Umsetzung ihrer goldgedeckten Handelswährung sowie ihren digitalen Zahlungssystemen – mit denen sie westliche Sanktionen umgehen können – vorangeschritten sind, wird auf dem BRICS-Gipfel Ende Oktober gerechnet und mit Spannung erwartet.
Türkei und BRICS: Gold gegen Öl
Die westlichen Sanktionen gegen die BRICS-Staaten Russland und Iran sind besonders hervorstechend. Bei ihrer Umgehung spielt auch Gold eine zentrale Rolle. Russland stockt seine Goldreserven heimlich auf. Auch China füllt seine Goldreserven kontinuierlich auf. Die Regierung in Peking sagt, dass sie sich damit auch auf mögliche Sanktionen im Hinblick auf einen weiter eskalierenden Taiwan-Konflikt wappnen möchte.
Was es zum BRICS-Goldstandard und die Entthronung des US-Dollars zu wissen gibt, erfahren Sie hier!
Die Türkei hat mit dem Iran trotz eines Embargos Handel betrieben. Beispielsweise hat sie 2014 das vom Iran geliefert Öl mit 200 Tonnen Gold bezahlt. Wie viele andere BRICS- bzw. SCO-Staaten auch, stockt die Türkei die heimischen Goldbestände seit Jahren auf – eine Verfünffachung in zwei Jahrzehnten. Erdogan sagt, dass Gold bei der Währungs- und Wirtschaftspolitik ein sehr bedeutender Faktor sei. Wie in den BRICS-Staaten Indien, China oder Iran spielt Gold auch in der Türkei traditionell eine große Rolle (beispielsweise bei Hochzeiten oder Geburten), was eine allgemeine Akzeptanz in der Bevölkerung für derartige ökonomische, das gelbe Edelmetall betreffende Schritte hervorruft.
Fazit
Die Türkei befindet sich inmitten des Spannungsfelds zwischen Ost und West; zwischen NATO und SCO sowie zwischen BRICS und der EU. Erdogan ist sich seiner Schlüsselrolle bewusst und versucht, die Position am Dreh- und Angelpunkt der Geopolitik für sich möglichst vorteilhaft zu nutzen. Das verstärkte Interesse an der BRICS-Staatengruppe zeigt auch eine Ausrichtung, welche die Entwicklung zu einer multipolaren Weltordnung betreffen.
Die signifikante Aufstockung der türkischen Goldreserven deutet auf eine tiefgreifende geopolitische Neuausrichtung des Landes hin, die womöglich eng mit der wachsenden Bedeutung der BRICS-Staaten verknüpft ist. Eine Annäherung an die BRICS verspricht der Türkei die Diversifizierung ihrer internationalen Partnerschaften, eine Stärkung ihrer Position in multilateralen Verhandlungen und den Zugang zu alternativen Wirtschafts- und Finanzsystemen.
Falls die Türkei wie geplant an dem BRICS-Gipfel teilnehmen, kann das als ein starkes diplomatisches Signal an den Westen gedeutet werden – ein Kurs Richtung Osten würde voraussichtlich stärkere Konturen annehmen. Nicht zuletzt wird sich auch zeigen, was über den Stand der goldgedeckten Handelswährung der BRICS-Staaten preisgegeben wird.
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